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VII

August 25, 2010

nero (37-68) singt den gesang des tyrannen

nachdem mir mein kumpel gerhard kürzlich den datenspeicher mit dem typischen intro-leser-repertoire – blumfeld, kraftwerk, tocotronic, vollknallte, spuckte der shuffle-modus meines morbiden mobiltelephons einen song der letztgenannten aus. shuffle-modus deshalb, damit mich niemand des neben- oder gar haupwiderspruchs bezichtigen kann, was mein ambivalentes verhältnis zu tocotronic angeht.
der song ließ mich als altgedienten altertumswissenschaftler aufhorchen, drückte er mir doch bilder vom antiken harfspiel auf die hirnrinde.
auf diese art in einen bann gezogen, wollte ich natürlich wissen, was es damit auf sich hat. die ergebnisse: unbefriedigend wie ein coitus interruptus. deshalb: die eigene königserläuterung urgently needed.
wobei königserläuterung fast das richtige wort ist – denn im „gesang des tyrannen“ geht es natürlich um nero, der zwar kein könig, aber immerhin kaiser war. dieser ist schließlich nicht erst seit sir peter ustinovs interpretation als begnadeter sänger bekannt, die wiederum als sample auf dem boxhamsters-album „der göttliche imperator“ geehrt wurde. da wollten tocotronic auf ihrem album „schall und wahn“ offenbar nicht hinten anstehen.
nero ist allerdings nicht figur, sondern nur rezipient des stücks. sprecher ist vielmehr ein verwaltungsfachangestellter des „tyrannen“. demütig erklärt er: „gesang des tyrannen/ sei mir willkommen“. diese demut steigert sich zum kadavergehorsam: „mein verlangen und ein flammendes inferno grüßen dich.“ nero, dieser charismatische führer hat es ihm angetan („verlangen“), später wird mit „bangen“ auch noch eine zweite motivation für sein unterwürfiges verhalten geliefert. denn zugleich kennt der verwalter die schattenseite des tyrannen, hat er doch in dessen auftrag gerade erst rom niedergebrannt und berichtet nun erfolgreich: „mission accomplished“, denn „ein flammendes inferno“ grüßt den imperator.
das muss ihn eigentlich besonders schmerzen, gehört der verwalter doch zur von nero verfolgten gemeinschaft der christen, denen laut tacitus ja die urheberschaft für den brand, das „flammende inferno“ eben, in die schuhe geschoben wurde. prophetisch kündigt er an, wie aus seiner sekte eine religiöse gruppe mit deutungshoheit werden wird: „was einst farce war, wird geschichte“. nun bekennt er sich auch dazu: „in diesem sinne lass mich dichten.“ auch will er die herrschaft des nero überwinden: „und diesen staat vernichten!“
die daraus resultierenden konflikte kulminieren im chorus: „in mir brennt das ewige feuer/ kalt, modern und teuer“ steht auf der einen seite. das „ewige feuer“ symbolisiert die hölle, dieses bild ist ja aus dem mittelalter bekannt. mit „kalt“ und „teuer“ werden negative attribute hinzugefügt, „modern“ steht für die bereits im „ewig“ manifestierte zeitlosigkeit und beinhaltet zugleich eine zeitkritik. dem gegenüber steht das „ewige licht“, das jeder anständige katholik natürlich aus seiner heimatgemeinde kennt. nur: der verwalter hat sich mit luzifer eingelassen und findet deshalb nicht die erfüllung: „dahinter gibt es nichts.“ der widerspruch, gut und böse dienen zu wollen, zu müssen oder eben zu dienen wird als schizophren diagnostiziert. der vermutlich aristokratische verwalter (möglicherweise konsul oder ritter) bezeichnet sich selbst als „graf von monte schizo“, wobei das wort „monte“ für berg eine weitere anspielung rom, die stadt der sieben hügel ist. der graf steht exemplarisch für den gesamten, widersprüchlichen sündenpfuhl, für die „hure babylon“. unterstrichen wird dies, in dem der refrain-part „in mir“ von einer zweiten stimme wiederholt wird.
tocotronic zielen in historischen fragen ja häufig in die richtige richtung und treffen dann daneben, etwa wenn sie antisemitismus als „mutter aller verschwörungstheorien“ bezeichnen, die mitterlalterlichen klischees über brunnenvergiften und hostien schänden meinen und von antijudaismus reden müssten. doch mit dem „gesang des tyrannen“ zeigen sie, dass sie in wenigen zeilen eine treffende analyse des ersten jahrhunderts nach christus liefern können. chapeau!